Widerrechtliches Verbringen oder Nichtrückgabe eines Kindes
Leitfaden Kapitel
Ein Elternteil mag es für vollkommen legitim halten, mit den Kindern in ein anderes Land umzuziehen, insbesondere dann, wenn er die Hauptbezugsperson der Kinder ist. Jedoch ist ein solcher Umzug in den meisten Fällen nur dann rechtmäßig, wenn das Einverständnis des anderen Elternteils vorliegt oder der Umzug von einem Gericht oder einer anderen Behörde genehmigt wurde. Je nach den Gesetzen des Landes, in dem die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, wird das Einverständnis des anderen Elternteils unter Umständen auch für den Umzug an einen weit entfernten Ort innerhalb desselben Landes verlangt.
Ein Beispiel: Sie sind in den Ferien mit Ihren Kindern im Ausland und besuchen Ihre Familie in Ihrem Heimatland. Die Beziehung zum Vater der Kinder, der zu Hause geblieben ist, läuft nicht besonders gut. Ihre Eltern und Freunde schlagen Ihnen vor, dass Sie einfach mit den Kindern dableiben und nicht zu Ihrem Partner zurückkehren. Bedenken Sie Folgendes: Auch wenn Sie das Land Ihres gewöhnlichen Aufenthalts erlaubt verlassen haben, um mit den Kindern Ihren Urlaub zu verbringen, kann es Ihnen als ein widerrechtliches Zurückhalten der Kinder ausgelegt werden, wenn Sie länger als vereinbart dort bleiben. Das kann gravierende Folgen haben.
Sogar dort, wo das Gesetz einem Elternteil das alleinige Sorgerecht einräumt, kann der andere Elternteil bei Umzügen ein Vetorecht haben. Es kann auch weitere Träger der elterlichen Verantwortung geben, wie etwa einen gesetzlichen Vormund, deren Zustimmung erforderlich sein kann. Wird eine notwendige Einwilligung nicht erteilt, kann es sein, dass zur Bewilligung des Umzugs ein Antrag an ein Gericht oder eine andere Behörde gestellt werden muss.
Deshalb ist es für einen Elternteil, der vorhat, sich mit den Kindern im Ausland niederzulassen, von entscheidender Bedeutung, sich darüber zu informieren, wessen Genehmigung erforderlich ist. Zu den Auskunftsquellen für solche Informationen gehören Berater/innen des Internationalen Sozialdienstes, spezialisierte Rechtsanwälte/innen sowie die zentrale Behörde im Land des gewöhnlichen Aufenthalts gemäß dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung von 1980.
Aus psychologischer Sicht besteht für Kinder ein großer Unterschied zwischen einem rechtmäßigen Umzug ins Ausland und einem widerrechtlichen Verbringen bzw. einer Nichtrückgabe eines Kindes.
Das widerrechtliche Verbringen oder die Nichtrückgabe von Kindern führt zu einem abrupten und manchmal endgültigen Abbruch ihrer Verbindungen zum anderen Elternteil und zur gewohnten Umgebung (wie Zuhause, Schule, Sport, weiterer Familienkreis, Freunde, Nachbarn, Haustiere). Daher kann das widerrechtliche Verbringen / die Nichtrückgabe gravierende psychologische Folgen für Kinder haben und gefährdet ihr Recht auf fortgesetzten Kontakt zu beiden Eltern, das durch das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes garantiert wird.
Kinder können mit einer Vielzahl von Symptomen und Krankheitsbildern auf eine Kindesentführung reagieren: Aggressionen, Depressionen, völliger Rückzug, Angst vor Ablehnung oder vor dem Verlassen werden, Vertrauensverlust gegenüber den Eltern oder allgemein, Bindungsschwäche, Verlust der Selbstachtung, verzerrte Wahrnehmung der Realität, körperliche Beschwerden (wie Schlaf- oder Sprechstörungen, Einnässen, Bauchschmerzen usw.).
Unrechtmäßiges Verbringen oder die Nichtrückgabe eines Kindes kann eine Kettenreaktion auslösen, angefangen von Polizeieinsätzen und Gerichtsverfahren bis hin zu „Selbsthilfe-Aktionen“ einzelner Familienmitglieder, sogenannten Rückentführungen. All dies kann die nachteiligen Auswirkungen auf das Kind noch verschlimmern. Immer wieder gibt es Fälle, in denen Kinder versteckt werden oder in einer ständigen Fluchtsituation leben. Es ist selbsterklärend, dass dies der psychischen und physischen Gesundheit eines Kindes schadet.
Mediatoren/innen machen Eltern, die einen schweren Konflikt austragen, auf diese Risiken aufmerksam und betonen, dass Kinder eine liebevolle und emotional stabile Beziehung zu jedem Elternteil und zu den Mitgliedern des weiteren Familienkreises brauchen.
Ein grenzüberschreitendes widerrechtliches Verbringen oder die Nichtrückgabe eines Kindes hat im Allgemeinen gravierende rechtliche Folgen. Das internationale Recht sowie nationale und regionale Gesetze sehen Rechtsmittel für Zivilverfahren in Fällen von Sorgerechtsverletzungen durch widerrechtliches Verbringen oder die Nichtrückgabe eines Kindes vor. Dem Elternteil, der mit seinen Kindern das Land ohne die erforderlichen Genehmigungen verlässt oder im Ausland bleibt, drohen Zivilgerichtsverfahren in seinem Aufenthaltsland. Im Ergebnis eines solchen Verfahrens kann die Rückführung der Kinder in das Land, in dem sie ursprünglich lebten, richterlich angeordnet werden.
Darüber hinaus kann sich eine strafrechtliche Verfolgung in dem Land des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts dieses Elternteils auch in dem Land auswirken, in das die Kinder mitgenommen wurden, und möglicherweise riskiert der Elternteil eine Freiheitsstrafe.
Neben dem großen Risiko sozialer Isolation können Stress und Angstgefühle im Zusammenhang mit den rechtlichen Folgen zu schweren Depressionen führen. Häufig geht dies mit einem Verlust des Vertrauens der Kinder in diesen Elternteil einher. Berichte Erwachsener, die als Kind widerrechtlich verbracht wurden, bestätigen dies.
Für den Elternteil, dem ein Kind entzogen wurde, ist das widerrechtliche Verbringen / die Nichtrückgabe ein Schock. Sie macht der Eltern-Kind-Beziehung auf brutale und abrupte Weise ein Ende, und oft befürchtet der Elternteil, dass er das Kind für immer verloren hat.
Die daraus resultierenden Gefühle von Angst, Hilflosigkeit und Verzweiflung werden noch verschlimmert, wenn der Elternteil den genauen Aufenthaltsort des Kindes nicht kennt und nicht weift, wie es ihm geht. Doch auch wenn der Aufenthaltsort bekannt ist, findet der Elternteil vielleicht keinen Weg, Kontakt mit dem Kind aufzunehmen.
Selbst wenn ein Kontakt grundsätzlich möglich ist, kann dieser in der Praxis schwierig sein, zum Beispiel wegen der großen Entfernung, der Reisekosten oder aufgrund von Visabeschränkungen. Moderne Technologien, z.B. Skype, sind oft auch keine Lösung, weil sie am Ort des Kindes nicht zur Verfügung stehen, oder weil das Kind zu jung ist. Ein gravierendes Problem kann schließlich sein, dass das Kind nach einer gewissen Zeit die Sprache dieses Elternteils verlernt.
Das Haager Übereinkommen von 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung definiert als widerrechtlich jedes Verbringen / jede Nichtrückgabe von Kindern unter 16 Jahren von ihrem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts, vorausgesetzt, das Sorgerecht des anderen Elternteils wird verletzt(siehe Artikel 3 des Haager Übereinkommen von 1980).
Das Übereinkommen legt Verfahren fest, die darauf abzielen, die umgehende Rückkehr der Kinder in das Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen und das Recht auf Umgang des Elternteils, dem das Kind entzogen wurde, zu schützen. Die Gerichte des Landes, in das die Kinder verbracht / aus dem sie nicht zurückgebracht wurden, sind gehalten, die unverzügliche Rückkehr der Kinder in das Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts anzuordnen. Von diesem allgemeinen Prinzip erlaubt das Übereinkommen nur äußerst begrenzte Ausnahmen.
Um widersprüchlichen Sorgerechtsentscheidungen vorzubeugen, sieht das Übereinkommen zudem vor, dass in dem Land, in dem sich die Kinder aktuell aufhalten, solange keine Entscheidung zum Sorgerecht erwirkt werden kann, wie das Rückgabeverfahren andauert. Vielmehr müssen Gerichte des Landes, in dem die Familie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, die Entscheidungen zur elterlichen Verantwortung treffen und darüber entscheiden, wo die Kinder wohnen sollen.
Informationen dazu, ob das Haager Übereinkommen von 1980 in Einzelfällen anwendbar ist, erhalten Sie von den zentralen Behörden, die gemäß dem Übereinkommen in jedem Vertragsstaat eingerichtet wurden.
Die vorgenannten Anlaufstellen können in der Regel auch Informationen über weitere regionale, multi- oder bilaterale juristische Instrumente zur Verfügung stellen, die in Fällen des grenzüberschreitenden widerrechtlichen Verbringens oder der Nichtrückgabe eines Kindes zur Anwendung kommen können.
Wo das Haager Übereinkommen von 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung zwischen zwei betroffenen Staaten nicht in Kraft ist, können andere einschlägige multilaterale, bilaterale oder regionale rechtliche Instrumente hilfreich sein. Darüber hinaus kann man auf Rechtsbehelfe zurückgreifen, die das nationale Recht bereithält.
In den meisten Staaten können Eltern, die ein Kind widerrechtlich verbracht haben, zu Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu 10 Jahren verurteilt werden. Sie können wegen der Begehung einer Straftat (Kindesentführung) angeklagt und wegen Missachtung des Gerichts belangt werden, sofern sie eine gerichtliche Anordnung, das Kind zurückzugeben, nicht befolgt haben.
Die grenzüberschreitende Familienmediation begegnet grundsätzlich einer Reihe von Herausforderungen, die sich von denen bei Konflikten innerhalb eines Landes unterscheiden: die geografische Entfernung zwischen Familienmitgliedern, das Zusammenspiel verschiedener Rechtsordnungen und die Zeit, da immer das Risiko besteht, dass Kinder den Kontakt zu einem ihrer Elternteile verlieren. In Fällen des widerrechtlichen Verbringens / der Nichtrückgabe von Kindern ist der enge Zeitrahmen, innerhalb dessen die Mediation gemäß den anwendbaren rechtlichen Vorschriften und Rahmenbedingungen stattfinden muss, eine besondere Herausforderung.
In einer Reihe von Staaten arbeiten spezialisierte Mediationsdienste in solchen Fällen in enger Abstimmung mit den von der Haager Konvention von 1980 vorgesehenen gerichtlichen Mechanismen. Dabei bleibt der Inhalt der Mediation streng vertraulich. Im Allgemeinen wird der Richter nur über das Ergebnis der Mediation informiert, nicht über ihren Inhalt.
Generell kann internationale Familienmediation in allen Stadien eines Gerichtsverfahrens stattfinden, ohne dass dadurch die Kommunikation oder Zusammenarbeit mit den Verwaltungs- und Justizinstitutionen unterbrochen wird.
Mediation ist unmittelbar nach dem widerrechtlichen Verbringen / der Nichtrückgabe der Kinder genauso möglich wie nach dem Antrag auf Rückgabe oder im Rechtsmittelverfahren. Häufig werden Eltern von Gerichten oder Verwaltungsbehörden über die Möglichkeiten der Mediation informiert, weil dadurch die zwangsweise Rückgabe der Kinder vermieden werden kann. Die Mediatoren/innen sind sich der zeitlichen Vorgaben und Fristen bewusst und intervenieren normalerweise schnell.
Wenn die Mediation begonnen wird, nachdem eine gerichtliche Entscheidung ergangen ist (etwa eine gerichtliche Anordnung zur unverzüglichen Rückgabe des Kindes) oder nachdem ein Rechtsmittel eingelegt wurde, kann sie dazu beitragen, dass die Rückgabe des Kindes beschleunigt wird und Absprachen getroffen werden, die die Rückgabe erleichtern. Selbst wenn die Positionen der beiden Elternteile sehr weit auseinanderliegen, kann die Aussicht auf ein äußerst langwieriges Berufungsverfahren, das keine Garantie auf Erfolg bietet, ein zusätzlicher Anreiz für die Parteien sein, eine Mediation durchzuführen.
Auch nach Abschluss eines Gerichtsverfahrens ist die Mediation zu empfehlen, da sie es ermöglicht, die längerfristigen Interessen aller Parteien zu berücksichtigen. Durch die Rückgabe oder Nichtrückgabe eines Kindes ist der Konflikt zwischen den Eltern in der Regel nicht gelöst, und es besteht z.B. die Möglichkeit, dass das Kind ein weiteres Mal widerrechtlich verbracht und dadurch erneut traumatisiert wird. Mediation kann dazu beitragen, den Konflikt zu deeskalieren und dauerhafte Lösungen zu erarbeiten, die sich den Lebensumständen des Kindes und beider Eltern anpassen (im Hinblick auf finanzielle, geografische und Kommunikationsfaktoren).
Internationale, regionale, bilaterale und multilaterale Rechtsvorschriften empfehlen ausdrücklich die gütliche Einigung und die Beilegung grenzüberschreitender Familienkonflikte durch internationale Familienmediation. Die Erfahrung der spezialisierten Mediationsdienste, die seit einigen Jahren in manchen Staaten arbeiten, zeigt, dass Mediation sogar in der sehr konfliktreichen Situation des widerrechtlichen Verbringens oder der Nichtrückgabe eines Kindes funktionieren kann.
Nichtsdestotrotz führt Mediation nicht immer zu einer Einigung und eignet sich nicht für jeden Fall.
Wenn sie durch einschlägige rechtliche Instrumente untermauert wird, ist Mediation aber eine Möglichkeit…
- für den Elternteil, dem die Kinder vorenthalten wurden, wieder Kontakt zu den Kindern aufzunehmen und Zeit mit ihnen zu verbringen;
- auf gütliche Art den Albtraum zu beenden, den das widerrechtliche Verbringen oder die Nichtrückgabe für die Eltern, die Kinder und häufig den weiteren Familienkreis ausgelöst hat;
- wieder miteinander zu kommunizieren und zu besprechen, wie man im besten Interesse der Kinder einen Weg zurück auf die „Elternebene“ finden kann;
- eine Vereinbarung im Hinblick auf das Kind und seinen Verbleib sowie auf Art und Umfang des Eltern-Kind-Kontakts über Landesgrenzen hinweg zu erarbeiten und diese Vereinbarung dem Gericht vorzulegen, vor dem das Rückgabeverfahren stattfindet;
- den Rechtsstreit zwischen den Eltern schnell zu beenden, der sich andernfalls sehr lange hinziehen könnte, da ein Gerichtsverfahren über die Rückgabe eines Kindes lediglich darauf abzielt, das Kind in das Land, in dem es ursprünglich lebte, zurückzuführen. Die Frage, wer das Sorgerecht zugesprochen bekommt und wo das Kind zukünftig leben soll, müsste dann in weiteren Gerichtsverfahren geklärt werden.
Die Tatsache, dass es immer wieder Fälle des widerrechtlichen Verbringens / der Nichtrückgabe gibt, die nicht abschließend entschieden werden, bzw. Fälle gibt, in denen Kinder mehrfach über Staatsgrenzen hinweg verbracht werden, zeigen, dass die zum Schutz der Kinder geschaffenen rechtlichen Instrumente vom vermehrten Einsatz eines ergänzenden Mechanismus, der den Schwerpunkt auf die außergerichtliche Konfliktbeilegung legt, profitieren würden.
Es ist belegt, dass es in den Mediationen umso häufiger zum erfolgreichen Abschluss und einer Mediationsvereinbarung kommt, wenn sich die Eltern voll auf die Mediation einlassen. Eltern berichten, dass sie selbst dann mit den Ergebnissen und Wirkungen der Mediation zufrieden sind, wenn sie nicht alle Probleme lösen konnten, mit denen sie konfrontiert waren. Mehr Berichte können Sie in der Studie „Mediation Pilot Scheme“ nachlesen, die vom Reunite International Child Abduction Centre herausgegeben wurde (die Seite steht auf Englisch zur Verfügung).